NANNE MEYER

Künstlerin, geboren 1953, arbeitet in Berlin
Das Gespräch mit Nanne Meyer wurde am 17.05.22 im Atelier der Künstlerin aufgenommen.

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Christian Schiebe: Dein aktueller Ausstellungskatalog »Meyers Handbuch über das Weltall« beginnt mit diesen einleitenden Worten von Dir: „Bedingungen schaffen, um auf etwas zu stoßen, womit man nicht gerechnet hat.“ Wie gelingt es Dir, diese Bedingungen immer wieder zu schaffen?

Nanne Meyer: Ich versuche immer wieder mit Materialien zu arbeiten, mit denen ich mich sehr lange nicht oder noch nie auf diese Weise beschäftigt habe. Materialien machen ja immer was, zum Beispiel mit der Bewegung, mit dem wie sich eine Linie oder Fläche oder eine Form zeigt. Und wenn das ungewohnt ist, dann ist das Gewohnte und auch das Sichere erst einmal irritiert und ausgehebelt. Und obwohl Unsicherheit manchmal anstrengend oder schwer auszuhalten ist, gefällt mir das. Ich muss ja nicht nur Perlen spucken. Als ich jung war, war ich vielmehr darum bemüht, dass das was ich mache auch etwas wird. Und jetzt denke ich: Es kann alles sein, ich kann im Nachhinein aussortieren und muss ja nicht alles in die Welt bringen. Will man Überraschungen erleben, muss man unbedingt auch ungewohnte Wege gehen. Ausgangsmaterial ist häufig ja nur ein Stift und ein Blatt Papier, und man kann fragen: Was überrascht Dich da so? Aber DOCH! Es überrascht mich sehr.

Bei meiner Beschäftigung mit etwas so Ungeheuerlichem wie dem Weltall, konnte ich mich nicht auf mein Wissen oder eine Konstruktion von Wissen beziehen: 95% sind dunkle Energie und dunkle Materie. Da weiß auch die Wissenschaft immer noch nicht, was das ist. 95% sage und schreibe… Es stellte sich mir natürlich die unmögliche Frage, wie ich mich denn so einem gigantischen Feld und vermeintlichem Wissen annähern könnte? Das geht ja gar nicht. Letztlich ging es mir dann immer um das Werden und Verschwinden. Das ist ja das Weltall, da wird etwas in sehr langen Zeiträumen, die wir uns kaum vorstellen können. Und da ist eine gewaltige Energie am Werk. Ständig explodiert und dehnt oder verflüchtigt sich etwas. Man weiß manchmal warum, manchmal auch nicht. Aus dieser Bewegung heraus – aus Werden und Verschwinden – habe ich dann gearbeitet. Das war ein ständiges Versuchen: Zum Beispiel durch bestimmte Handgelenksbewegungen auf den großen Zeichnungen, mit wieviel oder wenig Wasser die Gouache verdünnt werden muss, damit sich etwas so oder anders zeigen kann. Etwas entsteht, es gibt Erfahrungen, aber ich denke mir das Ergebnis vorher nicht aus. Das war für mich ein Leitfaden bei der Arbeit.

CS: Ich dachte, dass das einerseits eine gute Einleitung in unser Gespräch ist, weil es andererseits auch etwas ist, was für Deine Arbeit ganz generell gilt.

NM: Ja, das stimmt, und es hat auch mit einer gewissen Unfähigkeit zu tun. Niemand kann ja alles – (es gibt zwar Genies...). Ich habe einfach gemerkt, dass ich, wenn ich etwas willentlich herstellen möchte – man hat ja Ideen – dass das meistens ausgedacht und steif daherkommt. Ja gut, man kann sehen was gedacht wurde, aber sonst? Ich fand diese Zeichnungen bei mir einfach trocken, uninteressant, leblos und öde… Es fehlte immer etwas. Ich sah ein, dass ich eine Absicht oder Idee nicht so zeichnen kann, dass es für mich einen Zauber hat. Und so habe ich mich davon wegbewegt. Um meinen Vorstellungen näher zu kommen, musste ich meine Ergebnisse immer wieder durchkreuzen oder kaputtmachen, mich sozusagen durch die Hintertür annähern. Die Collage ist dabei ein willkommenes Hilfsmittel. Zum Beispiel zerschneide ich Zeichnungen, kombiniere Linien und Fragmente, die nichts miteinander zu tun haben und so weiter, bis die Zeichnung dann fast wie von selbst in eine andere Richtung kippt und das Rätsel aufgibt, nach dem ich gesucht habe. Aus dieser Unfähigkeit, die solche Umwege braucht, ist dann meine Arbeitsweise entstanden, die mir liegt und auch viel mehr Freude macht, die mich auf unterschiedliche Gleise führt oder mir neue Möglichkeiten eröffnet. Bei dieser Vorgehensweise richtet sich meine Aufmerksamkeit auf das Zufällige, das wenig Beachtete, auf das, was links und rechts des Wegs passiert und rumliegt. Die Zielgerichtetheit, das direkte Umsetzen einer Idee, hat mich dann immer weniger interessiert.

CS: Dieser Umstand, dass man eine Sache besonders gut in der künstlerischen Produktion kann, dem stehst du also auch kritisch gegenüber?

NM: Ja. Das Nicht-Können ist natürlich auch ein Eingeständnis. Es gibt eine frühe Zeichnung von mir, Ende der 1970er Jahre, die heißt: „Die Unfähigkeit präzisieren“. Da hatte ich das für mich erkannt. Um meine Unfähigkeit zu präzisieren, muss ich sie zunächst (an)erkennen und dann einen Weg finden, dass daraus etwas entstehen kann, sie also nicht als etwas Schlechtes bewerten. So war es ja auch in der Schulzeit: Man wird ständig bewertet und liegt immer daneben. Diese Erfahrung war übrigens die Antriebsfeder für mich Kunst zu studieren. In der Schule war ich eigentlich immer falsch: Meine Ansätze im Denken und selbst den Deutschunterricht, den ich liebte; Ich kriegte ständig ne vier. Ich wich, ohne es zu beabsichtigen, ständig vom Thema ab und konnte mich bei den gestellten Fragen selten für eine einzige Antwort entscheiden, habe dann aus sich widersprechenden Perspektiven argumentiert, Diagramme gezeichnet usw. und wurde nie fertig: fünf. Die Kunst erschien mir dann als Freiraum, in der man eigene Regeln aufstellen und in Ruhe falsch, beziehungsweise anders sein kann. Ich war völlig naiv und wusste nichts von Kunst, aber das war so eine Vermutung. Ich hatte übrigens auch ein schlechtes Abiturzeugnis. Wirklich! Furchtbar. Nur vieren und dreien. Auch in Kunst hatte ich wegen „Thema verfehlt“ immer eine vier. Aber zum Abitur bekam ich sogar eine zwei. Da gab es einen externen Begutachter.

CS: Weil Du gerade schon Deinen Blick auf die Kunst damals ansprachst: Gab es für Dich da besondere Richtungen oder Leute die für dich wirklich wichtig waren und vielleicht sogar immer noch sind?

NM: So kann ich es nicht sagen. Man muss ja bedenken, dass die erste Zeit, in der man mit der Kunst in Berührung kommt, unglaublich prägend ist. Am Anfang geht einem alles unter die Haut – und das war für mich in all ihrer Kargheit auch die Fluxuskunst. Das fand ich überzeugend. Auch dass diese Kunst nicht so verkäuflich war und nicht so verdinglicht wurde. Ich begriff, dass es um das Handeln, das Denken, um eine Haltung geht. Und das musste dann eine Form bekommen und sich im Umgang mit einfachen Mitteln zeigen. Aber es musste nicht unbedingt ein großes, monumentales Gebilde werden. Und diese Sparsamkeit der Mittel – auch bei der Arte Povera – hat mich immer angezogen, und deswegen auch die Zeichnung: Also ein Stift und Papier. Erstmal nichts Besonderes, mit einfachen Mitteln etwas zu probieren und zu denken… Die 1970er Jahre, als ich in Hamburg studiert habe, waren auch die Jahre von Fluxus, und da gab es dann auch gute Künstler, die an die Hochschule kamen und diese Haltung verkörpert haben. Da fühlte ich mich hingezogen. Es kursierte damals der Spruch, eine Art Motto: „As little art as possible.“ Das fand ich toll, das hat mir geholfen, mich nicht von der schweren Bürde der Kunst erdrücken zu lassen. Ich ging ja oft und gerne in Hamburg in die Kunsthalle und habe vieles dort bewundert und geliebt – aber ich wusste immer: Dem kann ich nichts hinzufügen. Ich kann das nicht. Das hat mich auch belastet. Ich wollte ja irgendwie in die Kunst, und da waren mir die Fluxuskunst mit ihren einfachen, zerbröckelnden Mitteln und das Prozesshafte nah und entlastend; eine Möglichkeit für mich, anzufangen.

CS: Das ist auch etwas, was für Dich heute noch eine Rolle spielt?

NM: Ja. Da gibt es so einen Kern, der ist geblieben. Wie sich der zeigt, oder welche Äußerungsformen man über die Jahre durchläuft – man geht ja durch verschiedene Phasen – die ich in der Rückschau auch nicht alle gut finde. Aber da musste ich irgendwie durch – mit viel Aufwand und Anstrengung… Die Einfachheit und die Einfachheit der Mittel finde ich für mich nach wie vor wichtig. Angesichts des Zustands unserer Welt, wird diese Frage heute auch wieder ganz aktuell. Für alle Künstlerinnen, die ja nicht außerhalb der Welt stehen: Was brauche ich an Energie, Aufwand, Material, um ein bestimmtes Weltverhältnis zu formulieren? Muss es jetzt die riesen Bronzeskulptur werden, drei Krähne und noch einmal Stahl, oder kann es auch etwas anderes sein? Wenn es so sein muss, muss es so sein. Aber oft muss es das auch nicht.

CS: Diese Angemessenheitsreflexion…

NM: … der Mittel ja. Manchmal ist es ja ein minimaler Gedanke und er wird unglaublich monumental umgesetzt bzw. aufgeblasen und man merkt: Das braucht es gar nicht.

CS: Der Fluxuskünstler Tomas Schmit war ja dafür, kleine Gedanken auch auf kleinen Zetteln zu belassen…

NM: Ja. Tomas war ja auch in Hamburg damals, und er sagte auch: „Wenn das eine Idee ist, die im Kopf bleiben kann, dann kann sie da auch bleiben. Es muss nicht immer alles gezeigt werden, und wenn doch, dann musst du Dir eben über die Angemessenheit Gedanken machen. Und wenn es eben ein DIN A4-Zettel sein kann, ist das auch gut. ”Ihr müsst nicht fleißig irgendwas vor Euch hinstricheln“, was ja heute viel gemacht wird. Vielleicht hängt das auch mit der Schwere der Gegenwart zusammen, dass sich bei mir der Gedanke aufdrängt, da sitzen manche mit dem Rücken zur Welt. Zeichnen wird vielleicht wie eine mönchische Tätigkeit verstanden oder wird kontemplatives Tun, um zur Ruhe zur kommen. Das kann ich auch nachvollziehen. Es fällt mir sehr auf. Manches davon schätze ich auch sehr – aber es gibt da auch Zeichnungen… Naja…

CS: Du hast mit der Zeichnerei ja ein Medium gewählt, dass an sich sehr vergänglich und fragil ist. Ist leicht angreifbar, geht schnell kaputt, Farben verblassen, wiegen nichts und zerknittern…

NM: Ja, war mir nur recht. Hat vielleicht auch etwas mit dem Eigengefühl zu tun. Jeder Mensch hat ja ein eigenes Innengefühl, wie man sich in der Welt fühlt. Und das denkt man sich nicht aus. Ich brauche den Humor, um auch der Schwere des Daseins zu begegnen. Jetzt bin ich hier in der Schwere und der Leichtigkeit der Welt, will meine Möglichkeiten lebendig halten und nicht trübsinnig und trauernd hier durchlaufen… Die Mittel, mit denen ich arbeite, sind unmittelbar an den Prozessen und Ergebnissen beteiligt. Das ist nicht einfach nur das Material. Das ist eine Entscheidung, Ausdruck einer Haltung.

CS: Eine andere Konstante in Deiner Arbeit ist, mal abgesehen von den Materialien, mit denen Du Deine Spuren hinterlässt, das Papier und das nimmt eine ganz maßgebliche Rolle in Deinem Werk ein. Was gibt es da so für Papiere bei Nanne Meyer? Geschnittene Papiere, geklebte Papiere, gefärbte Papiere, gefundene Papiere, rückseitige Butterpapiere… Der Umgang mit Papier ist so vielfältig.

NM: Ja und es ist ja auch ein Material, dass in unserem Alltag allgegenwärtig ist, und man findet es überall. Wenn man den Blick für irgendetwas sensibilisiert, findet man es plötzlich überall. Ich verwende häufig benutztes Papier, das schon etwas mitbringt und bereits ein Leben hinter sich hat. In Bezug auf die Ästhetik muss man aufpassen, dass solche Papiere im Kontext mit der Zeichnung nichts Geschmäcklerisches bekommen. Da bin ich sehr vorsichtig, und das möchte ich auf keinen Fall. Aber es gibt ja auch die ärmlichen Spuren, fast nichts. In Weißensee an der Hochschule habe ich aus dem Papierkorb so manche Schätze gezogen, wenn alle weg waren. Was man da alles fand … Ja ich liebe Papier, auch in seiner Vergänglichkeit, und dass es eben Eselsohren bekommt und knittert. Das finde ich gut, ist auch Teil der Arbeit. Und dann ist da plötzlich ein Riss, man erschrickt und muss dann eine Erfindung machen, um ihn zu verstecken - oder damit leben…

CS: Dann gibt es ja auch noch das gebundene Papier, dass darf man nicht vergessen!

NM: Mit den Büchern habe ich 1986 angefangen – das ist jetzt 35 Jahre her, die Hälfte meines Lebens. Schon vorher, während des Studiums, habe ich so etwas ähnliches gemacht. Da habe ich drei Jahre lang jeden Tag eine DIN A4 Zeichnung gemacht, sie in Monatsmappen gesammelt und zum Ende des Jahres alle aufgehängt, Bier gekauft, meine Mitstudentinnen eingeladen und dann wurde diskutiert und gelästert. Ich musste mich immer innerlich dafür stärken – denn es war mir ja doch wichtig. Aber es war immer gut. Das habe ich dann drei Jahre gemacht…

CS: Weil Du gerade diese Situation beschrieben hast: Du hast also einen ganzen Stoß DIN A4 Blätter und die bringst Du an die Wand und die hängen dann da in einem gleichmäßigen Gitter?

NM: Ja ein Monat hat ungefähr dreißig Tage. Der Raum war ja groß – eine waagerechte Linie, dreißig Tage und dann zwölf Reihen…

CS: In Deiner Ausstellung in Oldenburg gibt es jetzt diese enorme, wandfüllende Zeichnungsinstallation…

NM: Ich bin ja nun eigentlich überhaupt keine Freundin von Überwältigungskunst. Aber es gibt nun mal das Weltall, was als solches überwältigend und überhaupt nicht zu fassen ist, und da dachte ich, ich muss modellhaft irgendwas machen, was diese Unfasslichkeit und Unendlichkeit anspielt oder antippt, um ein Gefühl zu diesem sich ständig ausdehnenden, nicht zu fassenden Ding zu bekommen. Und es hat mir einen Trost gegeben, dass ich mein Vorhaben (mit dem Titel „Klumpen und Globen“) mit kleinen Formaten zu fassen kriegen kann. Ich wusste anfangs natürlich nicht wie das werden und wirken wird. Ich hatte einige „Klumpen und Globen“- Zeichnungen im Atelier auf der weißen Wand aufgehängt und sah, dass das Weiß der Wand den weißen Zeichnungen auf schwarzem Grund Konkurrenz macht und zusätzlich ein dominantes weißes Raster zwischen den Blättern entstand. So wurde klar, dass die Arbeit einen dunkelgrauen Hintergrund braucht.

CS: Als ich durch die Räume ging, war ich so verblüfft wie passend und stimmig die Zeichnungsinstallationen die Räume bespielen. Wenn ich jetzt diesen Halbrund-Raum zum Beispiel nehme. Da gibt es jetzt eine gehängte Zeile mit Deinen Lichtbildblättern und ich habe mich gefragt; Hast Du Teile dieser Ausstellung schon im Hinblick auf die räumlichen Gegebenheiten hergestellt?

NM: Nein, das habe ich nicht. Ich kriegte im Vorfeld, bei meinen zweimaligen Besuchen dort keinen Bezug zu den Räumen. Als ich das erste Mal da war, hatte ich auch noch zu wenig Arbeiten, um mich damit ins Verhältnis zu setzen und das zweite Mal gab es eine Filminstallation in den Räumen, da war das alles schwarz gestrichen und in kleinere Räume unterteilt. Ich konnte die wesentliche Struktur der Räume zwar erkennen, auch dass es dieses Rund gibt, aber ich konnte das Ganze nicht denken. Als ich die „Lichtbilder“-Zeichnungen dann gemacht hatte wusste ich, dass ihr Platz in diesem komischen Rund sein wird. Ich musste auch vorher für „Klumpen und Kloben“ eine Wand bestimmen und wählte dafür die höchste verfügbare Wand, die dann grau gestrichen wurde. Es war auch von Anfang an klar, dass die drei Meter langen „Freier-Fall“ Zeichnungen in die sich über zwei Stockwerke erstreckenden Öffnung kommen sollten. Aber ich wusste nicht wie, und das war dann die Idee von Patrizia Bach: 6 Zeichnungen im Block, ohne Abstand.

CS: Ich dachte auch, dass es im Grunde ein anspruchsvoller Museumsbau ist. Mit diesen kurvigen Wänden, die lange Rampe. Aber dann hat das doch alles gepasst; Wenn man zum Beispiel an Umlaufbahnen denkt! Ist es für Dich auch sonst eine gängige Verfahrensweise, dass Du vielmehr Arbeiten mitbringst, als du vorraussichtlich benötigen wirst, um dann vor Ort neu auf den Raum einwirken zu können?

NM: Ja immer. Auch in Bonn hatte ich das Dreifache mit, obwohl ich da einen sehr guten Kurator hatte. Volker Adolphs hatte die gesamte Ausstellung mit mir im Vorfeld geplant und die Platzierung der Zeichnungen in den Räumen festgelegt. Aber wir wussten trotzdem noch nicht genau, wie viele Zeichnungen wir schließlich hängen würden. Das konnte erst vor Ort endgültig entschieden werden, und deswegen hatte ich Alternativen dabei. Aber insgesamt war die Ausstellung im Kunstmuseum Bonn sehr gut vorbereitet. Als eine Art Überblicksausstellung war es auch ein anderes Konzept als in Oldenburg, wo es um ein Thema, das Weltall, ging. In Oldenburg hatte ich keinen Kurator oder Kuratorin. Für die Bonner Ausstellung waren der Kurator und ich vier Tage im Atelier und haben gemeinsam Zeichnungen gesichtet und ausgesucht. Das war richtig gut und sehr hilfreich. In Oldenburg lief das anders. Da habe ich alles alleine entschieden, was eine große Herausforderung war, weil man auch betriebsblind wird mit den eigenen Arbeiten…

CS: Mich hat in der Ausstellung natürlich auch begeistert, wie viele Arbeiten dort aus neuester Produktion zu sehen waren…

NM: Das war Covid… Ich lebte ja über ein Jahr abgeschieden auf dem Lande, habe mich da reinbegeben und dann auch wohl gefühlt. Hätte es Covid nicht gegeben, wäre bedeutend weniger entstanden. Es war ja nichts los. Ein bisschen Gartenarbeit, kochen, im Sommer morgens schwimmen…

CS: Und sonst Weltall?

NM: Und sonst Weltall. „Ab ins Universum“ habe ich mir damals gesagt und hatte dann auch eine innere Ruhe. Die Kultur war geschlossen, Begegnungen auf das Minimale reduziert, die üblichen Entscheidungen: ”Soll ich jetzt dahin gehen oder nicht?“ gab es nicht. Selbst wenn man sich gegen etwas entscheidet, ist man ja erstmal damit beschäftigt. Das fiel ja auch alles weg, und so ergab sich die Konzentration auf die eigene Arbeit. Und ich wusste außerdem, dass es die Ausstellung geben würde…

CS: Und dann gibt es auch immer wieder diese Verweise auf die Literatur. In dieser Ausstellung ganz besonders oder spezifisch auf die Weltraumliteratur.

NM: Ich habe ja schon immer viel mit Wortsprache gearbeitet. Für mich geht es in meiner Arbeit ja auch immer um das Verhältnis zum Dasein, um Wahrnehmung, um Sehen und Denken: Morgens klappe ich die Augen auf, dann kommt die Welt herein, und sofort fängt mein Gedankenkasten in Wortsprache an zu murmeln. Der ist ja kaum still zu kriegen. Das hat auch manchmal etwas Quälendes, auch das ständige Bewerten, noch bevor etwas gemacht ist. Aber es hat mich dann doch immer wieder umgetrieben, beides, Wort- und Bildsprache bzw. Schrift und Zeichnung, aufeinander zu beziehen, obwohl beides oft gar nicht miteinander in Verbindung steht – das was ich sehe und das was gesprochen wird. Zum Beispiel: Ich fahre im Auto über die Autobahn, die Scheibenwischer gehen hin und her, während ich auf die Fahrbahn schaue und im Radio über Afrika gesprochen wird … Diese Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Wahrnehmungen interessiert mich. Das ist so verrückt und passiert immer zu.

CS: Ich würde gerne noch einmal auf die Weltraumlektüre im speziellen zurückkommen. Ging es Dir da so, dass Du das gelesen hast und schon dachtest, das ist etwas oder da gibt es Versatzstücke oder Begriffe, zu denen ich was machen möchte? Was machte der Text mit Deiner Arbeit?

NM: Zunächst wurde mir deutlich, dass sich die Menschen aus allen Kulturen von jeher darüber Gedanken gemacht haben, wo wir hier eigentlich sind, und das auf sehr unterschiedliche Art und Weise. Es sind wissenschaftliche, religiöse und philosophische Fragen, und die Unterschiedlichkeit hat mich beflügelt. Es gibt keine Wahrheit. Es gibt nicht diesen einen Blick auf das Universum. Es sind viele Stimmen der Menschheit, die da flüstern, die unsere Erde und das Universum zu begreifen versuchen und damit auch sich selbst: Wo sind wir hier? Und wer sind wir Menschen? Ich habe dann natürlich ziemlich viel gelesen. Es gibt mittlerweile gute für Laien verständlich geschriebene astrophysikalische Bücher. Auch auf blogs im Internet habe ich viel gelesen, zum Beispiel von Florian Freistetter aus Wien, Astrophysiker und Wissenschaftsjournalist, der komplizierte Sachverhalte für Jedermann und Jederfrau kommuniziert. Auch Steven Hawking hat allgemein verständliche Bücher über Zeit und Raum verfasst. Bereits vor Jahren hatte ich einen kleinen Koffer in einem Antiquariat gefunden, voller astrophysikalischer Schriften und Forschungsergebnisse aus den sechziger Jahren. Daraus habe ich mich auch bedient und so manches gefunden: Tabellen, Fotos, Diagramme usw. sowie sonderbare Begriffe mit poetischem Potenzial. „Meyers Handbuch über das Weltall“ hatte ich bereits zweimal, bevor ich dann mein eigenes realisiert habe. Ich hatte eine Ausgabe aus den 1960er Jahren, das ich aus der Schulbibliothek kannte, und ein weiteres Exemplar, das mir meine Freundin Nicola von Velsen geschenkt hatte, das bis auf die Bildstrecken mit den Fotos nur leere Seiten enthält, alles leer, bis auf die Fotos eben … Keine Ahnung wo Sie das her hatte. Dieses fast leere Buch – ich wusste lange nicht was ich damit machen sollte, wurde dann mein Weltall- Begleitbuch, eine Art Materialsammlung, in das ich Bilder aus der Wissenschaft, Kunstwerke, Zeitungsfotos usw. eingeklebt und viele Zitate aus meinen Lektüren per Hand eingetragen habe. Im April letzten Jahres (2021), als dann die Ausstellung näher rückte, habe ich alle Zitate, die mich die ganze Zeit wie eine Wolke begleitet hatten, in den Rechner übertragen. Manche waren auch für meine Zeichnungen Impulsgeber gewesen. Es waren Zitate aus Literatur, Philosophie und der Wissenschaft, aus denen ich dann den „Zitatenwald“ für mein eigenes „Handbuch über das Weltall“ aufgebaut habe.

CS: Diese Wechselwirkung von Wortsprache und Zeichnungssprache ist etwas, was ich sich sonst auch durch Dein Werk zieht. Ganz besonders wenn man die Möglichkeit hat, in Deine Zeichnungsbücher zu schauen. Dann lässt sich das ganz gut nachvollziehen.

NM: Die Bücher sind ja auch der richtige Ort dafür. Da hinein kann ich auch mal längere Texte schreiben… Ich lese gerne im Sitzen, und finde es nicht so angenehm, vor (Museums-)Wänden zu stehen und längere Texte lesen zu müssen. Das finde ich anstrengend.
Aber ja, die Sprache hat mich immer umgetrieben und irgendwie finde ich es auch gut, die Mächtigkeit der Bilder etwas zu unterwandern und an ihrer Autonomie zu kratzen.. Damit sie eben nicht „Für-Sich-Stehen“ müssen. „Das Bild ist das Bild“ oder „Nicht immer so viel dazu sagen“ wurde in meiner Studienzeit oft behauptet. Das stimmt einerseits, aber mir ging es um ein Andrerseits, um etwas Anderes. Mir ging es darum das Bild zu irritieren und auch ein Umklappen von Sinn und Bedeutung zu erzeugen. Das konnte ich nicht lassen und irgendwann steht man ja auch dazu, selbst wenn man es vielleicht anzweifelt. Es war eine Hingezogenheit zu dieser Art von Tun, und wenn es nun immerzu auftaucht – dann mach es halt.

CS: Kann ich sagen, dass Du Viel-Zeichnerin bist?

NM:Ich glaube nur in Phasen. Jetzt, nach dem Ausstellungsaufbau im Januar, habe ich ganz wenig gemacht. Aber manchmal – ja. In der Zeit damals in Weißensee, war ich oft so neidisch auf die Studenten und Studentinnen. Dass die zeichnen konnten, und ich musste immer nur reden… Da war ich dann oft so müde und war trotzdem auch phasenweise Viel-Zeichnerin. Als Selbstbehauptung. Ich musste dann abends immer noch ins Atelier und etwas machen. Jetzt ist das anders.

CS: Ich frage auch danach, weil ich gerne wissen würde, was Dir der Umgang mit der Menge an Zeichnungen bedeutet. Damit meine ich, im Atelier große Stapel Zeichnungen haben, dicke Zeichnungsbücher füllen, mit viel Material in eine Ausstellung fahren…

NM: Es beruhigt mich. Es entlastet mich. Im Zusammenhang bzw. der Fülle sehe ich dann was geht und was nicht. Was ich brauche und was nicht. Wo weiter, und wo besser nicht. Obwohl es vielleicht nicht die beste Methode ist. Es gibt ja auch Künstlerinnen, die wenige, immer auf den Punkt gebrachte Werke hervorbringen. Das ist großartig und auch ökonomisch. Ist mir aber nicht gegeben. Ich muss vielleicht „viel“ machen, um in der Ernsthaftigkeit locker und auch spielerisch zu bleiben. Und später kann ich auswählen was standhält.

CS: Du hast mal gesagt: Man darf auch nicht immer gleich alles wegbewerten.

NM: Ja genau! Es wird ja schon wegbewertet, bevor ich überhaupt angefangen habe. Um diese Freiheit zu haben – darum geht es eigentlich. Nicht um viel zu haben, sondern um Freiheit zu haben und damit auch Vertrauen in das eigene Tun und Lassen. Mit etwas Abstand kann ich besser sehen. Manches muss wieder verschwinden, fast zumindest, das grundiere ich dann über und arbeite mit den hindurchschimmernden Resten. Die Arbeit im Atelier sehe ich als etwas Alltägliches. Es wird etwas gemacht, das dann da (und nicht heilig) ist.

Eine präzise Arbeitsweise finde ich natürlich großartig… Auch in der Musik – Anton Weber zu Beispiel. Der hat ein schmales Werk. Aber das ist vom Feinsten. Da stimmt alles. Und das ist natürlich ein Ideal. Aber mir ist diese Art von Arbeitsweise nicht gegeben. Ich kann das nicht. Man bewundert immer das Andere, das, was man nicht kann und braucht jahrelang um zu dem vorzudringen, was man kann.

CS: Ich bin ja immer erstaunt, wenn es Künstlerinnen und Künstlern gelingt, mit so einer Menge umzugehen. Wenn Leute nun Animationsfilme machen oder Filme generell und dann mit so einer riesigen Menge an Bildmaterial arbeiten können. Oder auch wie bei Deinen Zeichnungsinstallationen, die dann Wandfüllend sind und dreihundert, vierhundert Blätter umfassen und dann dennoch eine Präzision enthalten…

NM: Ja das passiert dann auch vor Ort beim Hängen. Manchmal werde ich auch klüger und kann dann nochmals etwas rausnehmen. Die Fülle reduziert sich auch wieder. Und wenn etwas ausgestellt wird, wird es sowieso nochmal etwas anderes als im Atelier. Ein kritischer Filter muss die Arbeit allerdings immer durchleuchten, bevor sie unter die Leute kommt. Aber manchmal gelingt das auch nicht richtig. Aber wie gesagt; das viel oder wenig machen, ist erstmal keine Kategorie.

CS: Ich glaube auch, dass man da unterscheiden muss, zwischen Viel-Zeichnen und bedingungslosem Fleißig-Sein…

NM: Ja und Fleiß finde ich eigentlich ganz schrecklich. Manchmal bin ich aber von etwas dermaßen besessen, dass ich es unbedingt machen muss. Alles andere muss dann warten. Aber das hat nichts mit fleißig zu tun, mehr mit so einem drive, einer Getriebenheit. Ob das, was dabei herauskommt, dann alles auch gut wird, ist eine andere Frage. Da geht es zunächst nicht um die Bewertung, die muss dann später erfolgen. Meistens bewege ich mich ja auch auf kleineren Formaten, die natürlich auch Räume füllen können. Aber ich liebe das Kleine.

CS: Und darin liegt auch das Unmittelbare. In dem Kleinen zeigt sich mitunter schnell das Unmittelbare.

NM: Ja. Man kann das Kleine natürlich auch präzisieren, aber das Kleine birgt meistens nicht so viele Risiken. Es ist schneller da. Es erscheint schneller. Das selbst in seiner flüchtigen Art Fertige… Die großen Zeichnungen brauchen andere Prozesse. Ja da muss man vielleicht manchmal sogar fleißig sein, weil das Verhältnis von einem Bleistiftstrich zum Format dann einfach eine Herausforderung ist. Das erfordert einen anderen Umgang und es ist natürlich auch ein Abenteuer, sich dem zu stellen. Aber nur fleißig darf es nie werden. Wenn jemand zu mir sagt: „Du bist aber fleißig“, dann ist das für mich niederschmetternd.

CS: Das ist ja auch so eine grundsätzliche Infragestellung der Mythen von guter Kunst, die erst einmal etwas „kann“ und die nur unter Schwerstarbeit und viel Fleiß hergestellt werden kann. Damit die auch nach bürgerlichen Kriterien etwas Wert sein kann. Das unterwanderst Du ja, wenn Du sagst: Erst einmal interessiert mich das Nicht-Können, das Abenteuerliche, das Kleine, das Unfertige und offene Werk.

NM: Ja, ich habe diese Hingezogenheit zum Bröckeligen und Aus-Dem-Papierkorb-Gezogenen. Zu diesen Nichtigkeiten. Ich habe einen großen Hang zu Nichtigkeiten. Da hinzukommen, das so sagen zu können und dazu auch zu stehen, hat für mich bestimmt dreißig Jahre gedauert.