ANNA ROBERTA VATTES

Künstlerin, geboren 1983, arbeitet in Berlin
Am 08.12.21 wurde das Interview mit Anna Roberta Vattes aufgenommen. Sie empfing mich in Ihrem sehr schönen Atelier in Berlin-Köpenick.

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Christian Schiebe: Die Titel Deiner Arbeit haben immer eine ganz bestimmte Qualität. Sie sind nicht nüchtern. Sie werden nicht streng durchnummeriert. Es gibt diese sinnliche und poetische Qualität in Deiner Titelvergabe. Wann weißt Du, dass Du einen Titel gefunden hast?

Anna Roberta Vattes: Ich habe ungefähr vor sechs Jahren angefangen Titel zu vergeben. Bis dahin hatte ich keine Titel. Früher wollte ich die Arbeiten für sich stehen lassen. Da wollte ich nichts einengen, nichts vorgeben und hab dann die Serien nach den Orten benannt, an denen ich sie gezeichnet habe. Ich habe früher oft draußen gezeichnet und dann gab es auch noch die Zimmerzeichnungen und Zeichnungen, die ich in Rumänien gemachte habe – da hatte ich zwei Residencies… Für diese Zeit war das ganz gut ohne Titel. Aber dann hatte ich ein Stipendium in Finnland. Das war eine ganz wichtige Zeit für mich. Ziemlich genau vor sechs Jahren. Es war im November/Dezember. Dunkel und kalt und ich war ganz alleine. Ich hatte zwar Kontakt zu den Leuten dort, aber es war ein sehr zurückgezogenes Stipendium. Ich hab manchmal tagelang mit niemandem geredet. In der Zeit habe ich gemerkt, dass ich Künstlerin sein möchte. Das war dann fünf Jahre nach dem Ende meines Studiums. Und nochmals eine ganz klare Entscheidung. Nicht dass ich das davor nicht schon verfolgt hätte, aber mit dieser harten Realität nach dem Studium konfrontiert zu sein, ruft ja doch die einen oder anderen Zweifel hervor und man denkt vielleicht: „Oh Gott, kann ich das? Schaffe ich das?“ Aber in Finnland habe ich das entschieden, dass ich das machen möchte und gleichzeitig habe ich dort an alte Zeichnungen angeknüpft, die ich im ersten Studienjahr gemachte hatte – die Zimmerzeichnungen. Also Zeichnungen, die ich in meinem Zimmer zeichnete. Als ich sie machte, hatte ich eine ganz starke Nähe zu mir und war viele Stunden alleine in meinem Zimmer. Als ich während der Residency so ganz abgeschieden war von der Außenwelt, habe ich mich daran erinnert. Und dann ist die „Wildnis“-Serie entstanden. Ich habe wieder angefangen auch Dinge zu zeichnen, die man erkennen kann. Davor hatte ich ein paar Jahre, in denen sich meine Arbeit immer mehr in die Abstraktion aufgelöst hat. Und vielleicht auch mehr in so formale Gebiete. Aber das hat mich zunehmend unglücklich gemacht, weil ich mich darin nicht wieder erkannt habe. Und jetzt komme ich auch gleich zu den Titeln – denn dann habe ich diese Zeichnungen in Finnland gemacht. In den wenigen Stunden mit Tageslicht habe ich immer Spaziergänge gemacht und währenddessen gezeichnet. Dort gab es Landwirtschaft und auch viele verlassene Orte, alte Maschinen und verfallene Häuser. Es gab Wälder, es gab Felder und sonst nicht viel.

Während ich arbeite, lese ich immer. Und meine Titel sind Worte oder Gedanken aus den Büchern, die sich dann mit meinen Arbeiten verbinden. Ich habe da ein Buch gelesen, auf das ich eigentlich über die Illustrationen gestoßen bin. Der Titel des Buches lautet „Wilderness“. Es ist eigentlich ein Jugendbuch und darin geht es um ein Mädchen, das einen Wald mit ganz anderen Gesetzen betritt. Der Titel des Buches hat sich dann mit diesen verschlungenen Zeichnungen verbunden und Wildnis erschien mir als ein passender Titel für den Ort, an dem ich war. Vielleicht würde man das jetzt nicht sofort mit Finnland und Landwirtschaft verbinden, aber das erschien mir dennoch sehr interessant. Eher Wildnis im Sinne des Verlassenen. Häuser, die Verfallen waren und leer standen, nicht mehr genutzt wurden. Aber auch, wenn ich selbst mal nicht so ganz aufgeräumt bin oder verloren, dann fühlt es sich auch etwas an wie eine Wildnis, in der ich die Regeln oder Gesetze nicht so richtig kenne. Und in der Dinge passieren, die ich erst einordnen muss. Und so fing das an, dass ich den Arbeiten immer Titel gebe. Innerhalb der Serie sind die Arbeiten dann durchnummeriert. Ich kann gar nicht für jede Arbeit einen Titel vergeben, weil es so schwierig ist, Titel zu finden, die sich für mich gut anfühlen und meistens ist das auch eher ein Titel, der nicht nur eine Arbeit beschreibt sondern diese Zeit, in der die Arbeiten entstanden sind und den Gedankenprozess, in dem ich mich da befand.
Die letzten Titel die ich so gefunden habe – „Exile and Illusion“ geht auf die Science Fiction Autorin Ursula K. Le Guin zurück. Sie schreibt sehr klar und es geht um Entwürfe von Gesellschaften oder auch von neuen Möglichkeiten – das eine Welt auch ganz anders sein könnte. Exile und Illusion ist bei mir im Kopf geblieben…

CS: Und wie ist es bei dem Titel „Alien Fragments“?

ARV: Auch von Ursula K. Le Guin. Ich habe einige Bücher von ihr gelesen. Zum Beispiel „The Left Hand of Darkness“. Das spielt auf einem Winterplaneten, auf dem die Personen, die den Planeten bewohnen, keine einheitlichen Geschlechter haben. Es gibt kein festgeschriebenes Geschlecht und man kann hin und her wandeln. Es ist eine spannende Geschichte und mich interessiert daran der Gedanke, dass es manchmal Teile in einem selbst gibt, die nicht zu einem gehören, sondern die in der Kindheit entstanden sind und die man eben so aufgenommen hat – also eine Zuschreibung: „So bin ich“ oder „Das gehört zu mir“. Aber eigentlich ist das vielleicht ein ganz anderer Teil, der zu jemanden anderen gehört. Auch bei Interaktion mit anderen Menschen denkt man manchmal, das wäre so oder so, aber eigentlich ist es nur eine Projektion. „Alien Fragments“ auch, weil etwas ganz unbekannt sein kann – etwas Außerirdisches. Es ist doch spannend, dass es Teile gibt, die nicht auf der Erde entstanden sind, sondern aus dem Weltraum stammen – das ist doch unglaublich! Und wenn ich arbeite, habe ich manchmal kleine Momente, in denen ich mir dann anschaue was ich gemacht habe und denke: „Das wollte ich ja gar nicht machen“. Und das sind ganz schöne Momente, in denen ich überrascht bin, weil etwas ganz fremd ist und ich es doch verstehen kann oder von da aus weitermachen kann.

CS: Könntest du sagen, dass du eine Methode hast, um zu diesem Moment zu kommen?

ARV: Wenn es eine Methode gibt, dann würde ich sagen: Das man zeichnet und zwar so viel wie möglich. Und es auch nicht abbrechen lässt. Ich muss auch nicht immer zeichnen, aber auf jeden Fall mich in diese Stimmung begeben. im Atelier arbeiten oder draußen sehr konzentriert und gleichzeitig über nichts sonst nachdenken: „Was wäre jetzt zu tun“ oder „Was wäre jetzt wichtig“ oder „Wie sollte die Zeichnung jetzt aussehen“ eben nicht. Damit meine ich jetzt nicht, dass etwas anderes plötzlich die Zeichnung ausführt. Das bin schon ich, die das macht. Aber ohne diese Begrenzungen, die man so hat – sondern einfach zu machen. Und dann kommt es zu glücklichen Momenten, in denen ich treffe, was mich wirklich interessiert und mir dabei nahe gekommen bin.

CS: Also gibt es da einen Zusammenhang mit einer Routine?

ARV: Ja. Auf jeden Fall. Das hatte sich für mich nach Finnland auch wirklich verändert. Vorher hatte ich schon diese Schwierigkeiten: „Fahre ich jetzt ins Atelier?“. Oder eben so einen großen Anfangsaufwand. Später habe ich dann entschieden, das fest zu strukturieren. Auch wenn ich manchmal eine Unruhe habe, oder nicht so genau weiß: „Was mache ich denn jetzt im Atelier?“ – es ist eigentlich immer gut ins Atelier zu fahren. Und sich dem auszusetzen. Natürlich ist es manchmal auch anstrengend oder vielleicht würde ich mich lieber ablenken oder nicht so bei mir sein… Aber danach ist es immer gut, wenn ich es dann gemacht habe. Also bei mir hat es ganz viel mit der Routine zu tun. Das ich die künstlerische Arbeit als meins angenommen habe und es auch nicht mehr in dem Maße hinterfrage, wie ich es früher getan habe.

CS: Und ist die Wiederholung so etwas wie ein Motor innerhalb der Routine? Damit meine ich eine kreisende Suche, die ja scheinbar in Deinem Werk durch die Serien ihre Entsprechung findet.

ARV: Wiederholung ist ein Begriff den ich jetzt schon häufig in verschiedenen Arbeitszusammenhängen gehört habe. Ich möchte da nochmals darüber nachdenken, was denn Wiederholung genau meint… Es stimmt schon, dass ich innerhalb der Serie Formen immer wieder produziere, weil ich versuche, sie genau zu treffen und es zugleich nicht die eine Richtige gibt. Denn es gibt immer wieder verschiedene Möglichkeiten, wie das Gezeichnete aussehen kann. Und die verändern sich ja dann auch immer wieder. Manchmal kann man etwas wiedererkennen, weil es Verwandtschaften gibt. Aber jede Zeichnung ist eben immer wieder etwas anders. Anfangs weiss ich wenig ; Also wie die Hand sich jetzt bewegt oder sich die Form auf dem Blatt verhält oder was denn jetzt hinzukommen könnte und meistens ist es dann so, dass sich innerhalb einer Zeitspanne diese Formen immer mehr erschliessen und vertrauter werden. Dann gibt es einen Punkt, an dem sich ein gutes und ausgeglichenes Verhältnis zwischen vertraut und unbekannt bildet.
Zum Ende hin ist es mir dann so vertraut, dass ich anfange, mich zu langweilen. Denn dann weiß ich genau, wie ich etwas einsetze und dann kommt diese Arbeitsphase zu einem natürlichen Ende.
Ich könnte dann noch mehrere machen – aber warum? Wenn die Spannung weg ist und die Momente weg sind, von denen man selbst überrascht ist, dann gibt es für mich eigentlich keinen Grund mehr, um weiterzumachen.

CS: Ich habe kürzlich einen wunderbaren Aufsatz gelesen, in dem die Frage gestellt wurde, worin denn die positive Kraft der Wiederholung liegt. [Leona Marie Ahrens, „Zur Positiven Kraft der Wiederholung“ in: Serien, 2021] Und die Autorin des Aufsatzes kam zu dem Schlusspunkt, dass die positive Kraft in der Differenz liegt.
Es gibt bei der Wiederholung nicht das ewig Gleiche. Auch wenn man die gleiche Geste zweimal hintereinander macht, liegt darin schon eine Variation verborgen… Schließlich ist währenddessen Zeit vergangen.

ARV: Bestimmt gibt es Arbeitsweisen, die es darauf anlegen, dass Dinge sich zum Verwechseln ähneln… Aber ich glaube. es kommt eben darauf an, dass man wirklich etwas verhandelt und es nicht einfach nur ausführt und fast schon unbeteiligt wird. Aber wenn man Differenz so sieht, dass es eine Differenz zwischen mir und der Arbeit gibt, dann bedeutet dass ja auch diese Überraschung, dass ich mir etwas vorher gar nicht so ausdenken konnte und dass in dem Moment etwas Unbekanntes oder Nicht-Vertrautes entsteht. Und trotzdem passiert das erst durch die Wiederholung, durch die kontinuierliche Auseinandersetzung… Diesem vorwiegend männlichen Künstler-Mythos kann ich nicht viel abgewinnen: Das Genie, das einmal die Farbe wirft und dann war er in einer guten Stimmung und hat noch ein Glas Rotwein getrunken und schon ist das Gemälde entstanden… Oder die Muse hat ihn geküsst. Mag ja so sein, dass das für den Einen oder Anderen so war – aber das interessiert mich überhaupt nicht.

CS: Der Begriff des Verhandelns ist sehr interessant! Dass man während einer Arbeitssituation tatsächlich zwingend wird. Ich habe auch immer den Eindruck, daraus leitet sich dann eine gewisse Qualität einer Arbeit ab. Das Erstaunliche ist doch, dass in der bildenden Kunst, im besten Falle sogar bevor ästhetische Kriterien etabliert sind, etwas verhandelt wird.

ARV: Bei mir ist es auch ein innerer Prozess, der dann natürlich auch ästhetische Formen annimmt, der aber auch während der Arbeit, schon vorher dagewesene ästhetische Formen vergisst. Oder ich nicht während des Prozesses schon versuche, die Arbeit irgendwo einzuordnen, sondern dass es um etwas Anderes geht.

CS: Gibt es für dich Lieblingsdinge oder Vorgänge, an denen Du einfach immer wieder zurückkehrst?

ARV: Ja. Ich zeichne keine Menschen. Ich habe es schon versucht, aber es hat mich nicht interessiert. Lange haben mich vor allem Maschinenteile interessiert. Dinge die gefertigt sind. Da geht auch weiterhin eine starke Faszination von aus. Dinge, die einmal hergestellt wurden und dann ihre Funktion verloren haben. Genauso wie Müll, den ich in Berlin gezeichnet habe, der da eben so rumlag. Gegenstände, die weggeworfen werden: Fernseher und Matratzen. Und auch Situationen, wie Markise an Haus mit Metallstange, die dann zu einem Eimer führt, der da dann steht. Aber ich habe für mich festgestellt, dass das auch für Pflanzen gilt. Da muss ich dann aber länger suchen. Vielleicht weil das für mich besetzter ist, dieses Pflanzenthema. Vielleicht wegen historischer Naturstudien… Das sind dann auch schnell diese Schwünge und Blattformen. Mich interessieren aber Dinge, die nicht schnell eindeutig sind. Ein Blatt kann man immer schnell erkennen. Aber vor ein paar Jahren war ich in Montreal und dort gibt es eine ganz interessante Stadtbepflanzung. Und da habe ich dann angefangen, auch Pflanzen zu zeichnen, weil die auch wieder sowas Verrücktes bekommen – sie sind nicht im Park oder im Wald zu sehen. Die wurden in Kästen arrangiert und es waren mir eher unbekannte Pflanzen, die ich auch nicht einfach erfassen konnte. Als ich mein Zimmer gezeichnet hab, Bücherregale, CD-Stapel, Sessel, einfach alles, war das auch ein Versuch das was mich umgibt, zu erkunden. Ich habe die Küche gezeichnet. Alle Teller, Tassen… Küchenmaschinen. Ich bin nicht festgelegt. In Albanien habe ich auch Bergketten gezeichnet, weil man da soweit gucken konnte.

CS: In Deiner Malerei findet diese Dingwelt aber keinen direkten Einzug?

ARV: Ich arbeite daran. Es ist tatsächlich ein großer Wunsch, dass das passiert, aber ich habe mich in der Malerei sehr weg bewegt von den Gegenständen. Äquivalent zu den Zimmerzeichnungen, gab es auch Zimmermalereien. Das war bestimmt auch die Stimmung an der Hochschule, dass ich dachte: „Ach das muss formaler werden. Das muss strenger werden. Da muss es um Farbe gehen.“ Das war auch ganz interessant, mich da rein zu begeben. Ich habe dann eine Zeit Farbobjekte gemacht, wo eigentlich das Bild gar keine große Rolle mehr gespielt hat. Da ging es dann eher um die Qualität der Farbe. Ich habe fünf, sechs Jahre gar nicht gemalt und dachte schon: „Gut, dann ist das jetzt eben so.“ Aber das man eine Farbfläche sehen kann, wie sie entsteht, dass der Weißraum plötzlich auch gefüllt wird – das hat mich einfach nicht losgelassen. Und seit ich hier im Atelier bin, habe ich genug Platz und daher musste ich es einfach wieder versuchen. Mich haben früher Malereitraditionen nicht so interessiert und vielleicht hatte ich auch ein bisschen Angst. Die Zeichnung ist für mich einfacher, freier. Sie hat nicht diesen riesigen Werkanspruch. Malerei hatte für mich immer eine Schwere. Ein BILD. Aber ich arbeite mich langsam dahin. Weil mich die farbigen, flächigen Gegenstände in meinem Kopf nicht loslassen und ich sehen möchte, wie sie auf der Leinwand entstehen. Die Zelte zum Beispiel, in unterschiedlichen Farben, in einer anderen Welt. Wo sie sich noch einmal anders bewegen können. In die Tiefe gehen können, Volumen bekommen… Aber es braucht einfach Zeit, bis ich meine eigene Sprache in der Malerei finde. Das ist auch zum Teil frustrierend, weil ich da schon etwas spüre oder es erahnen kann…

CS: Bei Deinen farbigen Pinselzeichnungen habe ich auch immer den Eindruck, dass sie trotz ihrer ursprünglichen Anlage an die Dingwelt eigenständige Konstellationen oder Welten sind.

ARV: Ja das ist es auch was mich interessiert. Daher auch der Verweis auf die Science Fiction Literatur. Es geht darum, was noch nicht da ist, aber was möglich ist. Was aus der Welt und den Dingen, die da sind, entstehen kann.